Seele & Geist
- Pierre & Alexandra Frot
- 8. Juli 2019
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 11. Juli 2019

Die Erfahrungen aus dem Familienstellen legen auch nahe, dass es eine nicht materialistische Ebene geben muss, auf der jeder Mensch mit jedem anderen verbunden ist und auf der Informationen fließen. Bert Hellinger war Priester und jahrelang Ordensmitglied der katholischen Kongregation der Marianhiller. Seine religiöse Erfahrung ist in vielen Facetten des Familienstellens erkennbar u. a. durch den Gebrauch von Begriffen wie »Seele« und »Geist«. Durch diese Begriffe wurde versucht, die Kraft, die hinter der Verbindung zwischen den Menschen steht, zu beschreiben.
Die Seele
Wie beim Gewissen, so wird auch bei Familienaufstellungen zwischen verschiedenen Ebenen der Seele unterschieden, wie z. B zwischen der individuellen Seele und der Familienseele. Diese Ebenen stellen dabei keine Trennungen dar, sondern sind als unterschiedlich weit gefasste Ebenen der Integration zu verstehen. Aufsteller »nach Hellinger« bewegen sich prinzipiell auf den Ebenen der sogenannten Familienseele (oder der »großen Seele«). Sie umfasst alle Seelen, die wir als einzelne Seelen wahrnehmen. Hellinger definiert sie als »eine Kraft, die Getrenntes verbindet und es in eine bestimmte
Richtung steuert. […] Diese Seele duldet nicht, dass irgendetwas ausgeschlossen wird. […] Diese größere Seele, die Familienseele, ergreift z. B. die Stellvertreter in einer Familienaufstellung. Sie werden von ihr in Besitz genommen und bewegen sich in eine Richtung, an deren Ende die Bewegung etwas verbindet, was vorher getrennt war.«
Für Hellinger besitzen wir nicht eine Seele, sondern wir sind in einer Seele.167 Die Seele
ist nicht in uns, sondern um uns. Dies ist eine wesentliche Erweiterung des gängigen Seelenbegriffs. Der Begriff »Familienseele« z. B. setzt voraus, dass die Familie, der wir angehören, ein gemeinsames »Ich« besitzt, ein gemeinsames Selbst und eine gemeinsame Seele. Die Seele gehört nicht uns als Person, sondern wir gehören der Seele und haben Anteil an ihr. Die Familie hat eine Grenze, die von der Seele gesetzt wird: Man erkennt, ob die Seele jemanden in diesen Kreis aufnimmt und mit den anderen Familienmitglieder verbindet oder ob sie ihn nicht mit einschließt. Diese Seele ist
wissend
aktiv
zielgerichtet
unabhängig von unserem Bewusstsein, unserem Denken und Wollen tätig.
Manchmal wird von Aufstellern der Begriff Seele als Synonym für »Familiengewissen« oder
für »Feld« benutzt, obwohl es Unterschiede zwischen den dahinterstehenden Konzepten gibt:
Das Familiengewissen bindet, indem es trennt. Im Gewissen wird immer zwischen gut und böse, richtig oder falsch, wir oder die anderen, unterschieden. Die Seele verbindet nur, ohne zu trennen. Sie ist es, die uns mit anderen Menschen und allem, was um uns herum ist, verbindet. Je mehr wir in der Seele sind, umso mehr sind wir verbunden.
Viele Familienaufsteller ersetzen das Wort »Seele« durch den wissenschaftlicher klingenden Begriff »Feld«. Für Hellinger ist »Feld« der technische Ausdruck für »Seele«. Der Begriff »Feld« hat jedoch einen Nachteil: Er erreicht nur den Verstand und dringt nicht tiefer.
Es ist etwas vollkommen anderes, ob der Aufstellungsleiter zum Ratsuchenden sagt:
»Ich brauche Zeit, um mit deiner Seele in Kontakt zu kommen« oder: »Ich brauche Zeit,
um mit deinem Feld in Kontakt zu kommen.« Bert Hellinger hat lange Zeit behauptet, dass
seine Aufstellungen auf der Ebene der Seele geschehen und nannte diese Art der Aufstellungsarbeit die Bewegungen der Seele. Seit 2006 hat er diesen Begriff aufgegeben, und spricht nur noch von Bewegung des Geistes oder von geistigen Aufstellungen.
Der Geist
Die Seele ist begrenzt und unterscheidet sich somit vom Geist. Sie folgt bestimmten Ordnungen, die nicht aus ihr selbst, sondern von Außen kommen müssen, von etwas jenseits der Seele – dem Geist. Der Begriff »Geist«, den Hellinger in Bezug auf die Bewegungen des Geistes oft benutzt, bedeutet für ihn Urkraft, die alle Existenz in Bewegung gesetzt hat und in Bewegung hält, jene Urkraft, die allem zustimmt, wie es ist. Es ist etwas, was wir nicht fassen können. Für viele ist das, was Hellinger als »Geist« bezeichnet, nichts anderes als der Schöpfergott. Die Bewegungen des Geistes führen laut Hellinger immer das zusammen, was vorher getrennt war. Sie sind immer Bewegungen der Liebe – einer umfassenden Liebe. Der Geist führt jenseits aller Bindungen zu einer absoluten Zugewandtheit zu allen und allem. Gut und Böse werden als Probleme des Gewissens und des Denkens gesehen. Der schöpferische und führende Geist ist aber der ganzen Wirklichkeit in gleicher Weise zugewandt und jenseits von Gut und Böse. Für Bert Hellinger sind die Bewegungen des
Geistes deswegen ein Teil des lebendigen Schöpfungsprozesses. Die Aufstellungsarbeit sollte uns daher direkt mit der geistigen Welt verbinden, mit dieser größeren Kraft, die uns laut Hellinger manchmal in den Dienst nimmt. Wir werden – konkret in den Aufstellungen – von dieser Kraft auch beschenkt und geführt. Geistige Familienaufstellungen sind spirituell – oder eben geistig.
Kritische Stimmen
Für die klassischen Theorien der Psychotherapie sind die Vorstellungen von Bert Hellinger eine Provokation. Er postuliert spirituelle Kräfte, die sogar ein Gedächtnis haben, das über das Individuum als Träger hinausgeht. Die Worte, die Hellinger benutzt, weisen für sie eher auf Religion bzw. Magie als auf Therapie hin. Nicht alle Aufstellungsmethoden setzen allerdings die Existenz einer »Familienseele« voraus. Mehrere Aufsteller bieten andere Erklärungen für das Phänomen der Verstrickung bzw. der Kontextüberlagerung. Der Psychiater Ernst Robert Langlotz spricht z. B. von »symbiotischer Anpassungsbereitschaft«, der Professor der Psychologie Franz Ruppert von »Symbiosetrauma mit
transgenerationalen Folgen« (siehe dazu auch »Mehrgenerationale Psychotraumatologie«).
Seele in der Mehrgenerationalen
Psychotraumatologie
Franz Ruppert hat in seinem Konzept den begriff »Seele« sehr lange benutzt. Er ersetzt diesen mittlerweile durch den Begriff »Psyche«, weil für ihn mit dem Begriff »Seele« oft metaphysische Konzepte verbunden werden. Auch wird Seele meist als etwas Ganzheitliches angesehen, während in seiner Theorie die Spaltung der psychischen Gesamtstruktur nach Traumaerfahrungen das wesentliche Erklärungskonzept darstellt.
Quellen: 166, 167, 168, 169
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