Systemische Therapien
- Pierre & Alexandra Frot
- 8. Juli 2019
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 11. Juli 2019

Bis in die 1950er-Jahre (und teilweise bis heute) ist Psychotherapie eine Angelegenheit zwischen zwei Personen, dem Therapeuten und seinem Klienten. Über lange Zeit hätte es niemand gewagt, Verwandte eines Klienten zu einer Therapie hinzuzuziehen. In der herkömmlichen Psychologie und den damit verbundenen Therapieansätzen wurde das Individuum selbst als Ganzheit mit körperlichen und seelischen Mechanismen gesehen.
In den 1980er-Jahren suchte die sogenannte »Mailänder Gruppe«, die den Begriff »Systemische Therapie« einführte, zusätzlich zu den Techniken der Kommunikationstherapie auch noch nach figural-anschaulichen Ausdrucksmitteln, um die Beziehungsgeflechte zwischen den Familienmitgliedern zu verdeutlichen und diese am räumlichen Modell zu bearbeiten. Dies konnten Skizzen (siehe dazu auch »Genogramm«), aber auch real aufgestellte Personen sein – ursprünglich die realen Familienmitglieder. Diese »Familienskulpturen« sind eine aus der »Familienrekonstruktion« Virginia Satirs abgeleitete Technik (siehe dazu »Ursprung des Familienstellens«).
Systemische Therapien brachten einen Paradigmenwechsel vom Individuum zum System mit
sich. Sie betrachten nicht nur das Individuum, sondern das ganze System, oft die Familie, aber auch die Schule oder das Arbeitsumfeld. Psychische Störungen, seelische Beschwerden und interpersonelle Konflikte werden deswegen bei systemischen Therapien nicht als individuelles Problem, sondern als Ergebnis eines fehlgesteuerten Systems bzw. fehlerhafter Kommunikation innerhalb des Systems angesehen. Die Therapie dient daher der Veränderung des Systems, das heißt der Beziehungs- und Interaktionsmuster in Partnerschaft, Familie oder Gruppe. Systemische Therapie stellt den Oberbegriff dar, der eine Vielzahl von therapeutischen Richtungen und Konzepten umfasst. Zu den systemischen Therapien gehören u. a. die Kommunikationstherapie (Watzlawick/Jackson), die systemische Familientherapie (Haley/Satir/Selvini-Palazoli), die strukturelle Familientherapie (Minuchin), die dynamische Familientherapie (Stierlin) usw. Bei allen kontroversen Diskussionen stimmen die Familientherapeuten folgenden Prinzipien zu:
Die Probleme einzelner Menschen müssen im Wirkungszusammenhang des (Familien-)Systems betrachtet werden.
Jedes Verhalten, sei es auch noch so »verrückt«, ist in seinem Systemkontext sinnvoll.
Der Blick des Therapeuten richtet sich nicht mehr auf das Problem, sondern auf die Lösung.
Lösungen sind auch in Kurzzeittherapien erreichbar.
Seit Dezember 2008 ist diese Therapieform und ihre Wirksamkeit auch in Deutschland wissenschaftlich anerkannt (in Österreich und der Schweiz erfolgte die Anerkennung bereits in den 1990er-Jahren).
Ist das Familienstellen eine Therapie?
Familienaufstellungen werden oft als systemische Therapie bezeichnet. Viele Leute – nicht
zuletzt viele Aufsteller – bestreiten jedoch diese Ansicht. Es handelt sich dabei nicht nur
um eine theoretische Diskussion: Die meisten Aufsteller haben keine Ausbildung zum Therapeuten, und wenn das Familienaufstellen als Therapieform anerkannt wäre, dürften sie nicht mehr praktizieren. Dabei werden eher die formalen Aspekte der Definition einer Therapie betrachtet, wie z. B.:
Es wird bei Familienaufstellungen keine Anamnese durchgeführt.
Die »Behandlung« dauert nur eine Sitzung. Sogar Kurzzeittherapien verlangen in der Regel fünf bis zwanzig Sitzungen.
Es gibt keine Nachsorge.
Für manche Beobachter ist es allerdings fraglich, ob eine Therapie nur durch ihre formalen Kriterien definiert werden sollte und nicht eher durch ihren Einsatzbereich und ihre Ziele. Die allgemeine Definition einer Therapie lautet: »Maßnahmen zur Behandlung von Krankheiten und Verletzungen. Ziel ist die Ermöglichung oder Beschleunigung einer Heilung, die Beseitigung oder Linderung der Symptome und die Wiederherstellung der körperlichen oder psychischen Funktionen«. Gemessen an diesen Kriterien werden Familienaufstellungen oft als Therapie eingesetzt.
Das Österreichische Bundesministerium für Gesundheit unterscheidet zwischen psychotherapeutischen Einsätzen von Familienaufstellungen, bei denen »ein wesentliches Ziel die Linderung von Leidenszuständen ist« sowie beratenden Einsätzen, bei denen »ein wesentliches Ziel die Ressourcenerweiterung ist«. Nur ausgebildete Psychotherapeuten dürfen die erstgenannte Art von Aufstellungen durchführen.
Bert Hellinger selbst sieht das Aufstellen nicht primär als therapeutische Methode an, sondern als Werkzeug, das in vielen Bereichen sinnvoll eingesetzt werden kann. Mittlerweile spricht Hellinger ausdrücklich davon, dass er selbst in seiner Arbeit lediglich »Lebenshilfe« leiste – eine Hilfe für die Betroffenen, ein besseres Leben führen zu können. Einen psychotherapeutischen Anspruch lehnt er kategorisch ab.
Kritische Stimmen
Die Methode des Familienaufstellens hat viele Kritiker. Ursachen dafür gibt es viele: die Person Bert Hellingers selbst oder aber die Ordnungen der Liebe, die für viele als reaktionäre Ideologie gelten. Der klinische Psychologe Colin Goldner, der bei dem »Forum kritische Psychologie« tätig ist, fasst die Kritikpunkte wie folgt zusammen: »Kein einziger der Parameter, die eine wissenschaftlich seriöse Therapie ausmachen, findet sich bei Hellinger. Es gibt keine Diagnostik, keine Interventionslehre, keine Indikationslehre, keine Praxeologie (allgemeine Theorie des menschlichen Handelns) und keine Therapieeffizienzüberprüfung.
Es ist eine esoterisch durchwaberte Laienspielinszenierung – nicht mehr; die aber gleichwohl für den einzelnen Teilnehmer hochgefährlich werden kann.«
Quellen: 201, 202, 203
Querverweise: »Kurztherapien«
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